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Shiva Mythos

Erschaffung des Menschen

Noch schlief Brahma in seinem goldenen Lotus, doch der Beginn der Schöpfung war nah.

Brahma erwachte, er schuf die Väter (Prajapatis) aller Wesen. ‚Geht und vermehrt euch‘, sagte er.

‚Wie?‘, fragten sie.

Wie, ja das stimmt, Brahma wusste es auch nicht.

Da hörte er eine Göttliche Stimme: ‚Du hast Väter geschaffen, doch wo sind die Mütter?‘

Brahma erkannte seinen Fehler. Er hatte nur die eine Hälfte der Schöpfung geschaffen. Sofort erschuf er die erste Frau, Usha, die Morgenröte.

Alle Prajapatis starrten Usha an. Auch Brahma selbst konnte seinen Blick nicht von ihr lösen.

Da stand plötzlich ein Jüngling vor ihm.

‚Wer bist du?‘

‚Ich bin Kama, der Herr des Begehrens‘, sagte er und schoss Pfeile in die Herzen der versammelten Männer.

Erschaffung der Tiere

Brahma, durch einen Pfeil verwundet, begehrte Usha, sie floh, indem sie die Form einer Kuh annahm. Da verfolgte Brahma sie als Bulle.

Da wurde Usha zur Stute, Brahma zum Hengst.

Da wurde Usha eine Gans und flog in den Himmel, ein Delphin und tauchte in den Ozean, sie wurde eine Löwin, eine Häsin. Brahma folgte ihr immer als das männliche Gegenstück. So entstanden die Tiere.

Die Prajapatis fanden dieses Verhalten ihres Schöpfers unmöglich und peinlich. Jemand muss ihn stoppen.

Aus Brahmas Stirn entstand ein furchterregendes Wesen: Rudra*. Er spannte Seinen Bogen und nagelte Brahma mit einem Pfeil am Himmel fest. Usha war gerettet.

‚Wer bist Du?‘ fragten die Prajapatis. ‚Ich bin Shiva.‘

Brahma dankte Shiva für seinen Eingriff und machte ihn zum Herrn der Tiere (Pashupati). Zum Herrn über die animalischen Triebe. Um die Stellung zu bekräftigen bekam er einen Stier als Reittier.

Erschaffung der Pflanzen

Brahma setzte die Schöpfung fort. Er tat dies nun aber gemeinsam mit Usha. Usha wurde zu Sarasvati (die Göttin der Weisheit) und gab Brahma die nötige Weisheit.

Zusammen schufen sie alles was sich im Kosmos aufhält: Götter, Menschen, Tiere, Dämonen, Geister.

Brahma bemerkte, dass die Tiere gewalttätig wurden. Manche griffen die Prajapatis an. Was war nun wieder falsch?

‚Sie haben Hunger, sie brauchen etwas zu essen‘, meinte Sarasvati.

‚Lass sie sich gegenseitig aufessen‘, erwiderte Brahma.

Die starken aßen nun die schwachen Tiere. Die schwachen Tiere wandten sich an ihren Herrn Pashupati (Shiva) und baten um Hilfe. Shiva ließ für sie Gras, Kräuter, Sträucher und Bäume wachsen. So wurde Shiva zum Herrn der Vegetation (Vrikshanatha). Die schwachen Tiere aßen nun die Pflanzen.

‚Und von was sollen die Pflanzen leben?‘, fragte Brahma.

‚Sie sollen von den fünf Elementen leben, von Erde, Luft, Licht, Wasser, Äther‘, sagte Shiva, der nun Bhutanatha war, der Herr der Elemente.

Tod und Wiedergeburt

Nun hatten alle Lebewesen ihre Lebensgrundlage und sie vermehrten sich. Es wurde zu voll auf der Welt.

‚Alle essen und vermehren sich, sie tun nicht anderes, was ging diesmal schief?‘, fragte Brahma.

‚Du hast den Tod vergessen‘, sagte Sarasvati. ‚Es darf nicht nur den Eingang ins Leben geben, es muss auch einen Ausgang geben, damit wieder Platz entsteht‘.

Brahma schuf Mrityu, Tod, in Form einer schönen schwarzen Frau mit roter Kleidung.

‚Töte die Lebewesen, nimm‘ ihnen das Leben.‘ Mrityu erschrak. ‚Warum soll ich das tun?‘

‚Ohne Tod hat das Leben keinen Sinn‘, sagte Brahma.

Mrityu rannte davon.

Shiva fand Mrityu verzweifelt. ‚Mach dir keine Sorgen, Ich sorge dafür, dass alle, die du tötest wieder geboren werden. So bist du zwar ein Töter zugleich aber auch eine Mutter, der Tod wird nicht das Ende sein, sondern der Übergang in ein neues Leben‘.

Mrityu wurde Mahakali, die Herrin der Zeit, alles Leben verschlingend. Shiva wurde Mahakala, der Herr der Zeit, der das Alte auflöst, damit Neues entstehen kann.

So wurde das Leben zum Rad, zum Rad das Shiva dreht – das Lebensrad, der endlose Geburtenkreislauf, Samsara.

Brahmas fünfter Kopf

Shiva besah Sich die von Brahma geschaffene Welt. Er sah Leiden, Krankheit, Trauer, Tod. Shiva kamen die Tränen, aus diesen Tränen wuchsen die Rudraksha* Beeren.

‚Was hast du getan, Brahma?‘

Brahma hörte nicht hin. Er ließ sich vier Köpfe wachsen, um Seine Schöpfung rundum sehen zu können. Er ließ einen fünften Kopf sprießen um Seinen Stolz zu zeigen. Shiva wurde zornig. Er wurde zu Bhairava* und schlug Brahma diesen fünften Kopf ab.

Brahma verwünschte Shiva, Er solle nie mehr zu einem Opfer eingeladen werden.

Shiva, im Gegenzug, verwünschte Brahma. Für Ihn, der eine unvollkommene Welt geschaffen hatte, sollte kein Tempel mehr gebaut werden.*

‚Ich habe nur die Welt geschaffen, nicht das Elend. Diese Welt ist weder gut noch schlecht, weder fröhlich noch traurig, weder richtig noch falsch. Sie IST einfach. Alles andere sind Projektionen des Geistes‘ entgegnete Brahma.

‚Du hast auch den Geist geschaffen‘ hielt ihm Shiva vor.

‚Der Geist kann sich an Projektionen haften oder es sein lassen und die Wahrheit suchen. Jeder hat die freie Wahl‘, konterte Brahma.

Yoga

Shiva zog sich nach Kashi* zurück, um nachzudenken wie der Geist zu kontrollieren sei. Er fand den Weg des Yogas. Jeder, der die Nichtigkeit des Materiellen erkennt kann durch Yoga Befreiung aus dem Geburtenkreislauf erlangen. Shiva lehrte den achtfachen Pfad des Yogas in Seinem Aspekt Dakshinamurti.

Nachdem er der Welt den Yoga dargelegt hatte zog er sich für immer nach Kashi zurück.

 

* Die Rudraksha Beere ist den Shiva Anhängern heilig.
* Rudra und Bhairava sind zornvolle Erscheinungen Shivas.
* Tatsächlich gibt es in Indien nur zwei Brahma Tempel, einen in  Pushkar, Rajasthan, und einen in Kumbakonam in Tamil Nadu.
* Kashi ist der alte Name von Varanasi. Varanasi ist die Stadt, die Shiva nie verlässt.

Aus ‚Shiva – An Introduction‘  von Devdutt Pattanaik.
Mit freundlicher Genehmigung Verlag Vakils, Feffer & Simons (P) Ltd., Mumbai.